3 Tamme

Tamme trat durch die Öffnung, schnell und wachsam. Sie hatte den drei Erforschern nicht von ihrem Mitkommen erzählt und erwartete nicht, daß sie erfreut sein würden. Aber nach dem Desaster auf Paleo, der Dinosaurierwelt, gingen die Agenten keine Risiken ein. Diesen Leuten konnte man nicht trauen. Allein gelassen würden sie irgend etwas anderes ausbrüten, um die Interessen der Erde zu verraten.

Das Lager war verlassen. Tamme sah auf einen Blick, daß Waffen und Nahrungsmittel entfernt worden waren: mehr als in den drei Stunden normalerweise verbraucht werden konnten, seit die erste Person durchgeschickt worden war. Sie hatten jetzt schon etwas vor!

Aber es war eigenartig. Zu viele Fußspuren führten weg. Veg, Cal, Aquilon - und eine barfüßige Person? Dazu etwas auf einem Raupenlaufwerk. Und die zwei Mantas.

Raupe? Schwerlich Standardausrüstung. Wo hatten

sie sie her?

Antwort: Es gab nichts, wo sie sie herhaben konnten. Tamme selbst hatte die ganzen Vorräte im voraus durchgeschickt und anhand einer Liste mehrmals detailliert überprüft. Dies war der erste menschliche Durchbruch auf diese neue Welt. Sensoren hatten berichtet von atembarer Luft, pflanzlichem Leben, amphibischen Tieren, Fischen - alles ziemlich weit entfernt von dieser Wüste, in der die Öffnung tatsächlich herausgekommen war, obwohl es sich bei ihr sicherlich um einen Teil dieser Alternativwelt handelte. Und fortschrittliche Maschinen. Das machte eine sofortige Erforschung zu einem Muß. Maschinen entstanden nicht aus sich selbst. Irgend etwas mußte sie bauen. Etwas das fortgeschrittener war als die Maschinen selbst. Ergo gab es auf dieser Welt etwas mehr, als die Sensoren angezeigt hatten. Entweder eine fortgeschrittene menschliche Kultur - oder eine fremde. In jedem Fall eine potentielle Bedrohung der Erde.

Aber Fenster zu neuen Welten waren schwer zu finden. Der erste derartige Durchbruch war erst vor wenigen Monaten erfolgt, und Mutter Erde hatte verständlicherweise kein wertvolles Personal beim Durchgang durch eine Einbahnstraßenöffnung riskieren wollen. Deshalb hatte man Freiwillige benutzt - drei Raumforscher, die Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen hatten und darum leicht überredet werden konnten. Kanonenfutter.

Ein ungewöhnliches Trio, in der Tat. Vachel Smith, ein riesiger Vegetarier mit dem Spitznamen Veg. Deborah Hunt, genannt Aquilon - nach dem kalten Nordwind, da sie, wie es schien, selten lächelte. Und Calvin Potter, ein kleiner, physisch schwacher Mann mit einem faszinierend komplexen Verstand.

Die drei waren auf einem Planeten namens Nacre verschollen gewesen - theoretisch glühte dieser im Raum wie eine Perle wegen seiner immerwährenden Wolkendecke - und hatten Freundschaft mit der dominierenden Lebensform dort geschlossen: einem belebten Pilz mit außerordentlichen Talenten - dem Manta.

Es war ein Fehler gewesen, diese Gruppe auf der Welt jenseits der Öffnung sich selbst zu überlassen, und die Behörden hatten das auch schnell erkannt. Inzwischen hatte sich das Trio jedoch statt, wie erwartet, umzukommen, zum nächsten Kontinent durchgeschlagen und sich mit der örtlichen Fauna eingelassen - sie hatten Talent für so etwas! -, die sich als reptilisch herausstellte, dinosaurisch, genauer gesagt. Sie herauszuholen war sehr unangenehm gewesen.

Drei Agenten der TA-Serie hatten es jedoch zuwege gebracht: Taner (jetzt tot), Taler und sie selbst, Tam- me. Aber als sie sich mit ihren Gefangenen zur Rückkehr zur Erde vorbereiteten, hatte sich eine weitere Schwierigkeit entwickelt. Ihr tragbarer Rückkehröff- nungs-Generator hatte nicht die Erde, sondern eine dritte Welt erreicht.

Sie hatten gewußt, daß Risiken auftreten würden genau von dieser Art. Die Öffnungen waren experimentell und unberechenbar. Obwohl Paleo bisher die einzige Alternativwelt war, die, von der Erde aus erreicht werden konnte, trotz Tausender von Versuchen, hatte sich ein einziger Versuch auf Paleo auf so unerwartete und heikle Weise ausgezahlt. Vielleicht war Paleo ein besserer Ausgangspunkt.

Die ursprüngliche Erde/Paleo-Öffnung blieb bestehen. Sie war erweitert worden, so daß massive Ausrüstungsgegenstände durchgeschickt werden konnten, und die drei Agenten hatten ihr eigenes vorfabriziertes Schiff gebaut, um damit die Flüchtlinge zu verfolgen. Ein vierter Agent war zurückgeblieben, um die Originalöffnung zu bewachen, die sich unter dem Ozean in der Nähe einer kleinen Pazifikinsel befand, anderthalbtausend Kilometer von der Westküste des paleozänischen Amerika entfernt.

Es war einfacher erschienen, den Transfer unmittelbar von diesem Ort aus - auf dem Kontinent - vorzunehmen, anstatt die mühevolle Rückreise mit den Gefangenen anzutreten. Die Örtlichkeiten schienen für die Öffnungen kaum einen Unterschied zu machen. Sie konnten an einem beliebigen Punkt beginnen und überall enden - üblicherweise im Vakuum des interplanetaren Raums. Sie hatten Taol per Funk um Erlaubnis gebeten, und der hatte sich mit den Erdbehörden zwecks Zustimmung in Verbindung gesetzt. Wenn die zusätzliche Öffnung erfolgreich arbeitete, würde es die Ausbeutung Paleos erheblich erleichtern.

Dann, mit der überraschenden Entwicklung, neue Befehle: Überprüfen Sie die Welt mit Sensoren und erforschen Sie sie persönlich, falls nötig - aber HALTEN SIE DIESE VERBINDUNG AUFRECHT! Es gab keine Gewißheit, daß sie diese Welt noch einmal lokalisieren konnten, - die launische Natur der Öffnungen war dafür verantwortlich -, und deshalb mußte diese jetzt offen gehalten werden. Die Erde, gewaltig überbevölkert und mit Ressourcen, die im Begriff waren, sich zu erschöpfen, brauchte eine lebensfähige Alternative zum teuren Handelsverkehr der Weltraumfahrt. Dies konnte sie sein. Weiteres Personal würde in angemessener Zeit durch die Hauptöffnung geschickt werden. In der Zwischenzeit mußte für den Fall, daß die Verbindung brüchig wurde, auf die vorhandenen Ressourcen zurückgegriffen werden.

Daher Begnadigung der Gefangenen. Sie waren frei - um eine weitere gefährliche Erforschungsaufgabe zu erfüllen. Man hatte ihnen jedoch nichts von den Maschinen erzählt. Diesmal würde sie ein Agent begleiten. Nur um sie vor Schaden zu bewahren.

Agenten waren entwickelt worden, um mit Notfällen dieser Art fertig zu werden. Ein Agent war kein Mensch im eigentlichen Sinn. Er war ein Androide auf einem menschlichen Chassis, gestaltet anhand exakter Spezifikationen. Tamme hatte über die Instruktionen für diese Mission hinaus keine Vergangenheit. Alles, was sie wußte, stammte aus dem gemeinsamen Informationspool, den sie mit jedem Agenten des TA-Typs teilte. Und der deckte sich weitgehend mit dem Pool der SU vor ihrer Serie und den der TE danach. Aber es war ein guter Pool, und alle Agenten waren übermenschlich, sowohl physisch als auch geistig. Sie konnte mit diesem Trio von Menschen fertig werden.

Sie unterbrach sich in ihren Betrachtungen. Das mußte eingeschränkt werden. Sie konnte physisch mit ihnen fertig werden, weil ihre Stärke, ihre Reflexe und ihr Training ihnen gegenüber beträchtlich überlegen waren. Und das galt auch für die Emotionen, denn obwohl sie Gefühle besaß, waren diese voll diszipliniert. Die Frau Aquilon hatte jedoch ihre Stärken, und der Mann Calvin besaß einen unheimlichen Verstand, der seine Fähigkeit, dem Verstand und dem Wahrnehmungsvermögen eines Agenten Paroli zu bieten, bereits demonstriert hatte. Zufällige Veränderungen in der »normalen« Bevölkerung hatten eine abnormale Intelligenz geschaffen. Zu dumm, daß es die Behörden nicht rechtzeitig erkannt hatten.

Tamme schnitt eine Grimasse. Die Wahrheit, jedem Agenten bekannt, aber nie laut ausgesprochen, war, daß sich die Obrigkeit nicht durch besondere Klugheit auszeichnete. Wenn jemals eine Klasse von Agenten programmiert wurde, die Probleme der Erde direkt anzugehen, würde sie damit anfangen, die Inkompetenten zu entmachten. Was für eine Verschwendung, einem törichten Herrn zu dienen!

Zurück zum gegenwärtigen Augenblick: Steckte Cal hinter dem seltsamen Verschwinden des Trios? Hatte er ihre oder Talers Anwesenheit - sie hatte mit Taler um die Ehre gekämpft, Schere/Papier/Stein, und verloren - vorausgesehen und irgendeine Falle errichtet? Möglich, aber unwahrscheinlich. Bevor er durchgeschickt wurde, hatte es in seinem Bewußtsein keine Spur davon gegeben. Er könnte so etwas getan haben, hatte es aber vermutlich nicht.

Was letzten Endes bedeutete, daß die naheliegendste Mutmaßung die wahrscheinlichste war. Sie hatte sich aus Vorsichtsgründen dazu gezwungen, die Alternativen zuerst durchzugehen. Die drei Erforscher mußten bereits auf eine der fortgeschrittenen Maschinen dieser Welt gestoßen sein, und diese hatte sie weggebracht - irgendwohin.

Was einer der Gründe war, aus denen man ihnen nicht vorher gesagt hatte, daß Tamme mitkommen würde. Was sie nicht wußten, konnten sie auch nicht verraten. Für den Fall, daß sich die Maschinen als intelligent genug herausstellten, ein Verhör anzustellen. Ein Agent hatte jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

So war das Kanonenfutter also verfüttert worden. Das erklärte alles, abgesehen von der zusätzlichen Spur. Die nackten Füße wanderten durch den Sand und stoppten, als ob die Person an dieser Stelle weggetragen worden war. Aber durch was? Eine Flugmaschine?

Sie überprüfte den Ursprung der Barfußspuren. Dasselbe: Sie erschienen aus dem Nichts im Sand. Wirklich komisch. Es sei denn, jemand hatte diese Spuren mit Absicht hinterlassen, indem er in seinen/ihren Fußstapfen erst rückwärts, dann vorwärts gegangen war, um sie als des Mysterium erscheinen zu lassen, das sie waren.

Tamme hatte ihren Reserve-Öffnungsprojektor bei sich, so daß sie unabhängig von der Stabilität der bestehenden Verbindung zu Taler auf Paleo zurückkehren konnte. Angenommen, der ihre öffnete nicht eine vierte Alternativwelt! Für einen Augenblick war sie versucht, sofort zurückzugehen. Diese Situation war unheimlich. Was lächerlich war, denn sie hatte keine Angst vor Isolation oder Tod.

In Ordnung: Sie hatte es mit einer Maschine zu tun. Einer ziemlich formidablen, wenn es ihr so leicht gefallen war, die drei Menschen und ihre Mantas schon zu töten oder gefangenzunehmen. Am besten war es, es unverzüglich mit ihr aufzunehmen. Und zwar mit äußerster Vorsicht. Zu schade, daß sie Taler nicht per Funk durch die Öffnung erreichen konnte!

Zuerst verschaffte sie sich einen Überblick über die nähere Umgebung. Sie rannte, mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern über den Sand hüpfend, beobachtete, lauschte. Es gab nichts, was in der Nachbarschaft lauerte. Sie beendete ihren Rundgang und folgte dann der ausgeprägten Spur aus Fußstapfen, maschinellen Raupenabdrücken und Mantamalen. Veg und Aquilon, offensichtlich zusammen. Eine sonderbare Parade!

Aber bald verzweigten sich die Spuren. Veg, Raupe und Mantas gingen weiter geradeaus, aber Cal und Aquilon wandten sich seitwärts - und machten halt. Ihre Abdrücke verschwanden genauso, wie es die barfüßigen getan hatten. Zwei weitere Leute waren auf unerklärliche Weise nicht mehr da.

Noch eine Flugmaschine? Warum hatten die anderen dann keine Notiz davon genommen? Wenn sie alle Gefangene waren, warum hatten dann nicht alle den Weg dorthin eingeschlagen, wo man sie hinbrachte? Ein weiteres Mysterium - und sie wurde dadurch nicht erleuchtet. Ihre Arbeitshypothese erlitt einen Rückschlag.

Tamme heftete sich wieder an die Spur, nachdem sie abermals einen prüfenden Rundgang gemacht hatte. Sie besaß ein gutes Wahrnehmungsvermögen, hätte es gemerkt, wenn sich irgend etwas in der Nähe verbarg. Das war nicht der Fall.

Einige Kilometer weiter trennten sich die Mantas. Der eine bewegte sich nach links, der andere nach rechts. Ein Einkreisungsmanöver? Aber was wurde eingekreist, wenn sie bereits gefangen waren?

Jetzt hatte sie eine Entscheidung zu treffen: einem der Mantas folgen oder auf der Hauptspur bleiben. Leichte Entscheidung: So schnell sie auch war, so konnte sie es mit einem Manta doch nicht aufnehmen. Die Fungi konnten es über Sand oder Wasser auf hunder- tundfünfzig Stundenkilometer bringen. Veg konnte sie einholen, solange er zu Fuß war.

Aber die Maschine war ein unbekannter Widersacher. Sie wollte nicht gerne den Hinterhalt eines solchen Geräts riskieren. So folgte sie der Spur mit dem Auge und hielt sich dabei ein, ganzes Stück seitlich, auf der Hut vor allem, was sie entdecken mochte.

Vegs Spuren verliefen nicht in gerader Linie. Mal wandten sie sich nach rechts, mal nach links, dann nach hinten - aber die Eindrücke seiner Fersen ließen erkennen, daß er rückwärts ging und die Richtung seiner Fortbewegung nicht änderte. Offenbar wandte er der Maschine das Gesicht zu, blieb aber aus ihrer Reichweite.

Warum?

Die Spur beschrieb eine leichte Linkskurve, so als ob die beiden in großem Bogen zum Basislager zurückkehrten. Nicht unbedingt ein Muster der Gefangenschaft.

Ein Manta tauchte auf, sich schnell über den Sand bewegend. Er wirkte wunderschön in seinem scheinbaren Flug. Sie hegte große Bewunderung für seine sich selbstregelnde Effizienz und Kunstfertigkeit. Tamme war bewaffnet, schoß jedoch nicht. Diese Kreaturen verstanden es auf phänomenale Art und Weise, auszuweichen. So war es ziemlich unwahrscheinlich, daß sie den Manta aus der Entfernung treffen würde, und zudem wollte sie ihn auch nicht unnötig herausfordern.

Er kam vor ihr zur Ruhestellung, zu einem dunklen Klumpen zusammensinkend, das eine riesige Auge glühend. Die Mantas, das wußte sie, sandten mit diesem Auge einen Allzweckstrahl ab. Mit seiner Hilfe sahen und kommunizierten sie. Versuchte er, ihr etwas zu sagen?

»Welcher bist du?« fragte sie versuchsweise. Sie konnten die Verdichtungen und Verdünnungen der Luft, durch die Töne entstanden, wirklich sehen. So konnten sie im Endeffekt hören, obwohl sie über keine auditive Vorrichtung verfügten. Alle ihre Hauptsinne waren in einem einzigen verbunden - aber was das für ein Sinn war!

Das Geschöpf sprang hoch, nahm seine flache Fortbewegungsform an und knallte mit seinem Schwanz wie mit einer Peitsche. Sechs Schläge.

»Hex«, sagte sie. »Vegs Freund. Weißt du, wo er ist?«

Ein Schlag, was JA bedeutete.

Letzten Endes war die Kommunikation nicht schwierig. Bald hatte sie in Erfahrung gebracht, daß Veg bei guter Gesundheit war und daß der Manta sie zu ihm fuhren würde.

Veg ruhte sich aus, als sie herankam. Er lehnte sich gegen einen Felsen und kaute auf einem Stück dunklem Brot herum.

»Wo ist die Maschine?« fragte Tamme, als ob es sich um eine Routineangelegenheit handelte.

»Sie war schließlich satt und verlor ihren Appetit«, sagte er. »Deshalb zog sie ab. Gut für mich. Mir war fast die Nahrung ausgegangen.«

»Sie haben sie gefüttert?«

»Sie war fest entschlossen, zu fressen. Besser, sie mit etwas zu füttern, was wir entbehren konnten, als sie ihre eigene Wahl treffen zu lassen. Wie lebenswichtige Ausrüstungsgegenstände - oder Menschen. Das Ding frißt sowohl Fleisch als auch Metall! Aber als ich anfing, es mit Steinen und Sand zu füttern, machte es, daß es wegkam. Nicht allzu clever.«

Die Maschine hatte ihn also angegriffen - und er hatte sie schließlich abgewehrt, indem er ihr das vorwarf, was die Wüste anzubieten hatte. Veg mochte kein Genie sein, aber er verfügte über einen gesunden Menschenverstand!

Veg betrachtete sie aufmerksamer. »Was, zur Hölle, tun Sie hier?«

»Wir trauen Ihnen nicht.«

»Das paßt.« Er war nicht einmal sehr überrascht. Sie konnte seine aufrechte, oberflächliche Reaktion von der leichten Anspannung seiner Muskeln, von der Perspiration seines Körpers und von seinem Atemrhythmus ablesen. Tatsächlich war seine Neugier erregt, denn er fand sie sexuell anziehend.

Tamme war daran bei Normalen gewöhnt. Sie war sexuell anziehend, man hatte sie ausgestattet, so zu sein. Üblicherweise ignorierte sie ihre Wirkung auf Männer, manchmal nutzte sie sie auch aus. Es kam auf die Situtation an. Wenn eine Mission durch Sex einfacher zu erfüllen war als auf einem anderen Weg, warum nicht?

Aber im Augenblick war ihre einzige Mission, ein Auge auf die Aktivitäten dieser Leute zu halten. Veg war der einfachste von ihnen. Seine Motive waren geradeheraus, und es lag nicht in seiner Natur, zu lügen. Sie konnte sich entspannen.

»Nehmen Sie etwas Brot«, sagte Veg und bot ihr ein abgebrochenes Stück an.

»Danke.«

Es war gutes Brot. Der Proviant der Agenten war immer nahrhaft, weil ihre Körper die richtige Wartung verlangten, um voll effizient zu sein. Sie biß hinein und zerbiß die harte Kruste mit den Zähnen, die genauso leicht das Fleisch und die Knochen eines Widersachers zerschneiden konnten.

»Wissen Sie, ich habe schon einen von euch Agenten getroffen«, sagte Veg. »Hieß Subble. Sie kennen ihn?«

»Ja und nein. Ich bin mit der SU-Klasse vertraut, aber ich habe diese spezielle Einheit nie getroffen.«

»Einheit?«

»Alle Agenten eines Typs sind austauschbar. Sie würden dieselben Erfahrungen mit jedem SU gemacht haben, und sie wären denen mit einem SO, TA oder TE sehr ähnlich gewesen.«

Sein Körper spannte sich in plötzlichem Ärger. Amüsiert las Tamme die Zeichen. Normale fanden die Vorstellung menschlicher Austauschbarkeit abstoßend. Sie wollten immer glauben, daß jede Person einzigartig war, selbst jene, die maßgeschneidert waren, nicht einzigartig zu sein. Wenn sie nur wüßten! Die Kameraderie der Identität war die größte Stärke aller Agenten. Tamme würde niemals eins ihrer programmierten Attribute aufgeben - es sei denn, jeder Agent ihrer Klasse gab sie ab. Sie fühlte sich nur in der Gesellschaft ihrer eigenen Art richtig wohl, und selbst andere Agentenserien brachten sie dazu, sich leicht unbehaglich zu fühlen.

»Anständiger Bursche, auf seine Weise. Ich nehme an, er hat alles berichtet, was wir sagten.«

»Nein. Subble starb, ohne einen Bericht abzugeben.«

»Zu schade«, sagte Veg mit gemischten Gefühlen.

Abermals analysierte Tamme ihn. Es tat ihm leid, daß Subble gestorben war, aber er war auch erleichtert, daß es keinen Bericht gegeben hatte. Offenbar war ihr Gespräch persönlich geworden.

»Agenten treten den Leuten nicht unnötig feindlich entgegen«, sagte sie. »Unsere Aufgabe ist es, Tatsachen festzustellen und entsprechende Maßnahmen zu treffen. Wir sind alle gleich, so daß die Art und Weise unserer Reaktionen vorherbestimmt werden kann und unsere Berichte nur geringfügiger Korrekturen wegen Subjektivität oder menschlicher Voreingenommenheit bedürfen. So ist es einfacher für den Computer.«

»Das sagte er auch.«

»Natürlich. Es ist das, was wir alle sagen.«

Wieder diese vorhersehbare Verärgerung. Veg blickte sie an.

»Aber ihr seid nicht gleich. Er... er verstand.«

»Versuchen Sie es irgendwann mal bei mir.«

Er blickte sie wieder an, intensiver, weil er eine Einladung heraushörte. Wiederum Sex Appeal. Er hatte offensichtlich eine traumatische Erfahrung mit dem Mädchen Aquilon hinter sich und litt noch unter den Nachwirkungen. Nun stand er einer anderen reizvollen blonden Frau gegenüber, und obwohl er verstandesmäßig wußte, daß sie eine pflichtergebene und unpersönliche Regierungsagentin war, sah er gefühlsmäßig kaum mehr als ihre äußere Erscheinung. Aus diesem Grunde waren Agentinnen reizvoll - wenn sie diesen Eindruck auch nach Belieben verwischen konnten. Normale besaßen eine außerordentliche Fähigkeit, sich bewußt selbst zu betrügen.

Der andere Mann, Calvin Potter, war eine viel größere Herausforderung. Die zweckdienlichste Methode war es jedoch, sich die Kooperation des geeignetsten Individuums zu sichern, und das war Veg. Cal würde sich keine Illusionen machen.

Veg hingegen war, in gewissem Rahmen, zugänglich, und zwar gegenwärtig mehr, als er es in einem Monat sein würde.

»Wir sind gleich«, wiederholte Tamme und lächelte auf eine Art, von der sie wußte, daß sie der Ausdrucksweise, die Subble benutzt haben würde, nicht ähnlich war. »Ich kann alles tun, was Ihr SU tun könnte. Vielleicht sogar noch ein bißchen besser, weil ich zu einer späteren Serie gehöre.«

»Aber Sie sind kein Mann!«

Sie hob eine helle Augenbraue. »Und?«

»Wenn Sie also jemand verprügeln würde.«

»Nur zu«, sagte sie und schob das Kinn vor. Sie mußte sich zurückhalten, um die Plumpheit seines Versuchs nicht zu belächeln.

Er bewegte sich ganz plötzlich, hatte dabei vor, seine Faust kurz vor dem Ziel zu stoppen. Er war in der Tat ein starker Mann, durchaus geeignet, in einem anderen Zeitalter als Boxer auftreten zu können. Selbst im Sitzen, wie jetzt, könnte die Wucht eines solchen Hiebs jeden normalen Menschen ausgeknockt haben.

Im Vorbeugen fing sie seinen Arm ab und lenkte ihn zur Seite. Seine Faust ging hinter ihrem Kopf vorbei, und der Schwung riß ihn herum. Plötzlich war sie in seiner Armbeuge, und ihre Köpfe befanden sich dicht beieinander.

Sie küßte ihn ganz leicht auf die Lippen. »Die Zeit wird kommen, großer Mann«, murmelte sie. »Aber zuerst müssen wir Ihre verlorengegangenen Freunde finden.«

Diese Erinnerung elektrisierte ihn. Er bekam einen dreifachen Schock: einmal ihre unter Beweis gestellte Fähigkeit, ihn physisch abzuwehren, dann der scheinbare Beginn einer amourösen Liaison mit einem weiblichen Agenten - die Faszination eines unterdrückten Wunschtraums, die Aussicht, daß er tatsächlich Wirklichkeit werden könnte und schließlich die Überlegung, daß er mit einer Fremden herumtändelte, während seine beiden engsten Freunde vermißt wurden.

Natürlich war Veg keinesfalls so schuldig, wie er sich in diesem Augenblick fühlte. Tamme hatte diese Begegnung mit Bedacht, für ihn jedoch völlig unvorbereitet herbeigeführt. Er hatte niemals ernstlich geglaubt, daß sie sich mit ihm einlassen würde - und er hatte nicht gewußt, daß Cal und Aquilon verschwunden waren. Das Auftauchen der Mantas hatten den Anschein erweckt, daß alles in bester Ordnung war. Der Gedanke, Hex oder Circe eingehender zu befragen, war ihm nicht gekommen, und die Mantas hatten, wie bei ihnen üblich, nichts davon gesagt oder angedeutet, daß etwas nicht stimmte.

Er war davon ausgegangen, daß sich Cal und Aquilon im Lager aufhielten, völlig sicher, weil er die tückische Maschine weggelockt hatte.

Tamme hatte ihn mit einem Kuß geschockt, während sie ihn gleichzeitig darüber informierte, daß dem nicht so war. Im Laufe der Zeit würde er sich das alles richtig überlegen und erkennen, daß die Agentin ihn benutzt oder doch wenigstens manipuliert hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt würde ihre Bemerkung »Die Zeit wird kommen« längst so tief bei ihm eingesickert sein, daß es ihn nicht mehr kümmern würde.

Echtes Kinderspiel. Deshalb war Cal viel interessanter. Natürlich würde sie den Versuch unternehmen, Cals zu beeindrucken, weil er dann weniger geneigt sein würde, gegen die Interessen der Erde zu arbeiten - die Interessen, wie die Erdbehörden sie sahen. Aber sie erwartete, daß sie scheiterte. Auch das Mädchen würde sich als schwierig herausstellen, weil ihre Waffe des Sex Appeal nutzlos sein würde. Aquilon besaß selbst eine ganze Menge Sex Appeal - und er war natürlich, nicht kultiviert. Eine seltene Gabe! Außerdem hatte Aquilon bereits einen männlichen Agenten, Taner, getötet. Sie würde dasselbe mit einem weiblichen Agenten tun, wenn es die Umstände erforderten.

Und es gab da ein Geheimnis: Wie hatte sie Taner getötet? Sie konnte den Mann nicht überrascht haben und sie konnte ihn auch nicht verführt haben. Agenten wandten Sex an wie alles andere, was nötig war. Er wurde nicht bei ihnen angewandt.

Die Mantas mußten beteiligt gewesen sein. Die Fungi waren extrem schnell, und ein Hieb ihrer peitschenartigen Schwänze konnte töten. Aber um zu attackieren mußten sie sich in der Luft befinden und nahe genug herangekommen sein, und die Reflexe eines wachsamen Agenten reichten aus, einen Manta abzuschießen, bevor er zuschlagen konnte. Die Koordination war eine Sache von Sekundenbruchteilen - aber der Agent hatte das bessere Ende für sich.

Offenbar war Taner unaufmerksam gewesen. Aber das konnte die Ermordung eines Agenten nicht entschuldigen. Wenn die Tatsachen bekannt wären.

Sie waren jetzt beide auf den Beinen, bereit zum Abmarsch. Vegs Gedanken waren in den erwarteten Bahnen verlaufen. »Sie sind nicht im Lager?«

»Nein. Ihre Spuren folgen den Ihren und verschwinden dann.«

»Stimmt das, Hex?« fragte er den Manta. Mißtrauen gegenüber den Agenten war so tiefverwurzelt, daß er sich des unterschwelligen Affronts nicht einmal bewußt wurde. Warum sollte er ihre Worte für bare Münze nehmen?

Hex knallte einmal mit dem Schwanz. Bestätigung. Tamme fragte sich, ob die Kreaturen menschliche Lügen genauso leicht lesen konnten, wie es die Agenten konnten. Sie würde sich darüber Gedanken machen müssen.

»Vielleicht hat Circe sie gefunden«, sagte Veg.

Hex knallte zweimal.

»Ich meine, Sie sollten sich mal die Spuren ansehen«, sagte Tamme. »Hier geht etwas Seltsames vor sich, und wir könnten in Gefahr sein.« Die Tiefstapelei des Tages!

»Warten Sie«, sagte Veg. »Die Mantas sind mit Cal durchgekommen, richtig? Sie müssen Bescheid wissen.« Aber noch während er sprach, erkannte er, daß Hex nicht im Bilde war.

Tamme zuckte die Achseln. »Ich vermute, daß Cal Sie vermißt hatte und die Mantas losschickte, um Sie zu finden. Während sie unterwegs waren, wurde er von irgend etwas überrascht.« Sie nahm seine neue Alarmstimmung wahr und ergänzte schnell ihre Feststellung. »Soviel ich weiß, ist er nicht tot. Er ist lediglich verschwunden. Die Spuren führen in den Sand hinaus und hören auf. Ich habe den Verdacht, daß er durch eine Maschine weggebracht wurde.«

»Eine Flugmaschine?« Er grübelte darüber nach. »Könnte sein. Ich habe sie nicht gesehen - aber diese Bodenmaschine war hartnäckig genug. Aber wenn.«

»Ich glaube nicht, daß sie aufgefressen wurden«, sagte Tamme, die wiederum seine spezielle Besorgnis wahrnahm. Er war mit seinen Freunden eng verbunden! »Im Sand findet sich kein Blut, kein Anzeichen eines Kampfes. Die Abdrücke lassen erkennen, daß sie da standen, aber weder rannten noch kämpften.«

»Vielleicht«, sagte er, halb erleichtert. »Hex - irgendeine Idee?«

Drei Knalle.

»Er weiß nichts«, sagte Veg. »Circe muß wohl nach ihnen Ausschau halten. Vielleicht sollten wir einfach zum Lager zurückkehren und warten.«

Tamme streckte die Hand aus, packte seinen Arm und riß ihn mit einer Kraft zur Seite, die er bei ihr nicht vermutet hätte. Sie lagen hinter einem Felsen auf dem Boden ausgestreckt. Wortlos deutete sie mit der Hand.

Irgend etwas schwebte in der Luft, gut dreißig Meter entfernt. Ein Netz aus schimmernden Punkten, wie strahlende Staubpartikel im Sonnenlicht. Aber auch wie der Nachthimmel. Es war so, als würden unmittelbar hier in der Atmosphäre des Planeten winzige Sterne geboren. Sie hatte von dergleichen noch nie gehört; nichts in ihrer Programmierung kam dem nahe.

Hex sprang hoch, orientierte sich in Richtung des Schwarms. Er schoß darauf zu.

»Paß auf, Hex!« schrie Veg.

Aber Tamme erkannte eine Schwäche in dem Manta. Um kampfbereit zu sein, mußte sich die Kreatur in der Luft befinden. Tatsächlich schritt der Manta sehr schnell über den Boden, mit einem Fuß, wobei sich sein mantelförmiger Körper gegen den Druck der Atmosphäre stemmte. Er mußte sein großes Auge unmittelbar auf das Objekt richten, um es überhaupt sehen zu können. Deshalb mußte der Manta geradewegs auf den Schwarm losgehen - oder ihn ignorieren.

Vermutlich würde die Kreatur kurz vor dem Funkengebilde seitlich ausweichen.

Hex machte es genau so. Aber in diesem Augenblick dehnte sich das Lichtmuster abrupt aus und verdoppelte seine Größe. Der äußere Rand erstreckte sich über den sich bewegenden Körper des Mantas hinaus.

Und Hex verschwand.

Dasselbe geschah mit dem Lichtschwarm. Die Wüste war wieder lichtlos.

»Was, zur Hölle, war das?« rief Veg.

»Das , was Ihre Freunde geholt hat«, sagte Tamme kurz und knapp. »Ein Energiefresser - oder ein Materialtransmitter.«

»Es hat Hex.«

»Ich glaube, wir sollten besser von hier verschwinden. Und zwar schnellstens.«

»Dem kann ich nur zustimmen!«

Sie standen auf und rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Circe!« rief Veg. »Da ist irgend etwas hinter uns - du solltest ihm nicht zu nahe kommen! Es hat Hex geholt!«

»Herrje«, sagte Tamme.

Veg blickte sich sorgenvoll um. Das Muster war wieder da, bewegte sich schnell auf sie zu. Circe ließ sich neben ihnen nieder, der Erscheinung zugewandt.

»Wir können nicht schnell genug laufen«, sagte Tamme. »Wir werden kämpfen müssen.«

Sie wandte sich dem Schwarm zu, versuchte ihn zu analysieren, um eine Schwäche zu erkennen, obwohl sie nicht wußte, wonach sie suchte. Das Ding wirbelte umher und pulsierte wie eine riesige fliegende Amöbe, wobei es flüchtige Pseudopodien ausstreckte, die nicht zurückgezogen wurden, sondern verschwanden. Funken, die erloschen, wenn sie von der Hauptmasse weggeschleudert wurden?

»Gott.«, sagte Veg. »Oder der Teufel«, sagte sie und feuerte mit einem ihrer Hüftblaster.

Die Energie strömte durch das Zentrum der strahlenden Wolke. Lichtpunkte glühten in der ganzen Schußbahn auf, aber der Schwarm brach nicht zusammen.

»Es ist ein Geist!« sagte Veg. »Einen Geist kann man nicht verbrennen.«

Er war mehr verblüfft als furchtsam. Angst lag ganz einfach nicht in seiner Natur. Er war weggelaufen wie jemand, der vor einem umstürzenden Baum zurückwich, sich in Sicherheit bringend, ohne dabei von Panikgefühlen übermannt zu sein.

Tamme zog eine andere Waffe hervor. Ein Flüssigkeitsstrahl schoß heraus.

»Feuerlöscher«, sagte sie.

Auch dieser erzielte keinerlei Wirkung. Jetzt war der Schwarm über ihnen. Nadelkopfgroße Lichter umgaben sie und erweckten den Anschein, als würden sie im Zentrum eines Sternennebels stehen. Circe sprang hoch, mit ausgebreitetem Mantel, aber es gab nichts, wonach sie schlagen konnte, und für die Flucht war es zu spät.

Dann geschah etwas Seltsames.